Erzählperspektiven

Auktorialer Erzähler, auktoriale Erzählperspektive

Übersicht

Der auktoriale Erzähler (lat. auctor = Urheber, Berichterstatter) wird auch als allwissender Erzähler bezeichnet. Im Gegensatz zu Autor und Leser befindet er sich zwar innerhalb der Geschichte, er ist aber nicht Teil des Geschehens. Vielmehr steht er außerhalb des Geschehens und berichtet dem Leser über dieses. Folglich nennt der auktoriale Erzähler die Figuren der erzählten Geschichte beim Namen oder bezeichnet sie als er oder sie. Zudem ist er ist absolut unabhängig vom Geschehen und hat alle Freiheiten, um die Geschichte zu erzählen. Diese Erzählperspektive ist somit völlig unlimitiert. Inwieweit und insbesondere wann er von diesen Freiheiten Gebrauch macht, liegt in der Hand des Autors. Um einen brauchbaren Spannungsbogen zu erzeugen, wird das Wissen des Erzählers nur nach und nach bzw. an dramaturgisch sinnvollen Stellen offenbart.

Eigenschaften des auktorialen Erzählstils

Der auktoriale Erzähler verfügt über eine beneidenswerte Eigenschaft: Er ist allwissend. Er weiß über das Setting, die Handlung und die Charaktere allumfassend bescheid.

Es können verschiedenste Orte beschrieben werden, wobei es nicht darauf ankommt, dass ein mitspielender Charakter diese bereits gesehen hat oder jemals (so detailliert) sehen wird. Der auktoriale Erzähler kann beispielsweise in Kisten hineinschauen, in die eine Figur nie hineinschaut, was für selbige gut oder schlecht sein mag. Auch kann er etwa davon berichten, dass ein Dachziegel auf dem Weg ist, einer Person auf den Kopf zu fallen, ohne dass diese die Gefahr selbst bemerkt.

Dank der Allwissenheit kann der auktoriale Erzähler verschiedene Handlungsstränge darlegen und zwischen ihnen hin- und herspringen, wobei es nicht darauf ankommt, dass bestimmte Figuren Teil einer dargelegten Handlung sind. Dabei kann er auch Zeitreisen unternehmen und so von der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft berichten.

Er kann in die Köpfe aller Figuren hineinschauen und mitteilen, was sie denken und fühlen. So ist es beispielsweise bei einem Dialog möglich, die Gedankenwelt beider Figuren offenzulegen. Wird etwa eine Figur bei einem Beamten vorstellig, um einen Antrag auf irgendetwas zu stellen, kann der auktoriale Erzähler erzählen, was der Beamte von der Hauptfigur hält. Obwohl Handlungsweise und wörtliche Rede des Beamten nett und freundlich sind, kann die Gedankenwelt schließlich ganz anders aussehen.

Der auktoriale Erzähler kann, muss aber nicht, Wertungen vornehmen. Es steht ihm frei, Handlungsweisen oder Charakterzüge der Figuren zu bewerten. Dies geschieht durch Kommentare, Deutungen oder ironisch-distanzierten Vortrag.

Schließlich kann der auktoriale den Leser auch direkt ansprechen: »Auch Sie, werter Leser, werden das kennen. Man wacht morgens auf und ist todmüde.«

Wirkung und Verwendung

Dadurch, dass der auktoriale Erzähler zwar Teil der Geschichte ist, aber außerhalb des Geschehens der Geschichte steht, ensteht automatisch eine gewisse Distanz zum Geschehen. Diese Distanz überträgt sich auf den Leser, denn ihm wird die Geschichte sozusagen vom Hören-Sagen erzählt. Die Kehrseite der Medaille ist freilich, dass eine Bindungswirkung zum Erzähler entstehen kann. Diese Bindung kann insbesondere durch Wertungen und Kommentare des Erzählers verstärkt werden. Der Leser ist dann beispielsweise auch der Meinung des Erzählers.

Dass der auktoriale Erzähler in die Köpfe der Figuren schauen kann, vermag die Distanz zu den Figuren und dem Geschehen zu verkürzen. Der Leser kann so auch Sympathie oder Antipathie zu den Figuren entwickeln und sich mit ihnen identifizieren.

Dadurch, dass die Perspektive unlimitiert ist, man also jederzeit alles erzählen kann, droht die Erzählung berichtartig zu werden. Ein Bericht ist in der Regel aber nicht sehr spannend. Es ist sorgfältig darauf zu achten, wann und wie dem Leser Wissen mitgeteilt wird. Insbesondere bietet es sich an, die Regel »show, don’t tell« zu beherzigen.

Durch Wertungen und Kommentare besteht zudem die Gefahr, dass der Erzähler besserwisserisch wirkt oder der Leser vom ständig erhobenen (moralischen) Zeigefinger genervt ist.

Diese (möglichen) Wirkungen auf den Leser mögen Gründe dafür sein, dass der auktoriale Erzählstil ein wenig aus der Mode gekommen ist. Er bietet sich an, wenn es mehrere Handlungsstränge und viele (wichtige) Charaktere gibt. Aber auch dann, wenn es nur einen Hauptcharakter gibt, kann der auktoriale Erzählstil verwendet werden. Die Erzählung aus dem »Off« und die Möglichkeit zu werten und zu kommentieren, machen gerade den Reiz dieser Erzählperspektive aus. Man muss den Erzähler »nur« im Griff haben, indem man ihn nicht nur berichten lässt und es vermeidet, ihn durch Wertungen und Kommentare unsympathisch werden zu lassen.

Beispiel

Schauen wir uns den auktorialen Erzähler anhand eines Beispiels an:

Seinen Blick fest auf das Smartphone gerichtet, schlenderte Luca den Gehweg entlang. Er gehörte zu jenen Menschen, die alles um sich herum vergaßen, sobald sich das Telefon bemerkbar machte. Eine schreckliche Eigenschaft. Er hatte eine Nachricht bekommen, die bei ihm nur wenig Begeisterung hervorrief. Dass sich nur wenige Meter vor ihm der Pfosten einer Laterne befand, nahm er überhaupt nicht wahr. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß derweil Marie in einem Café und sah das Unglück kommen. Sie fand Gefallen an dem jungen Mann. Sollte sie den Unbekannten warnen? Unschlüssig schaute sie auf die Szene. Luca befand sich nur noch wenige Zentimeter von der Laterne entfernt. Gleich würde es zum Zusammenstoß kommen.

Der Erzähler funktioniert hier wie eine an der Straße montierte Kamera, die nicht nur alles sieht, sondern auch in die Gedankenwelt der beobachteten Personen hineinschauen kann. Das Beispiel zeigt, dass der Erzähler in Lucas und Maries Kopf schauen kann. Zudem übersieht er die gesamte Szenerie. Der Erzähler lässt es sich nicht nehmen, Lucas Verhalten zu kommentieren: Er findet es schrecklich.